Weihnachten gilt bis heute als Fest der Familie – doch für viele Menschen hat sich der Begriff längst verändert. Beziehungen bestehen nicht nur aus Verwandtschaftslinien, sondern aus jenen, die uns auffangen, begleiten und bereichern. Patchwork-Konstellationen, Freundeskreise, queere Communities, Stief- oder Zweitfamilien: Sie alle sind längst fester Bestandteil moderner Feiertage. Und sie erinnern daran, dass Zugehörigkeit kein Geburtsrecht ist, sondern ein fortwährendes „Wir entscheiden uns füreinander“.
Für manche entsteht diese Wahlfamilie aus räumlicher Distanz zur Herkunftsfamilie, für andere aus schwierigen Beziehungen, Brüchen oder Verlust. Gerade dann können die Wochen rund um Weihnachten ambivalent sein. Hinzu kommt, dass nicht alle Menschen die gleichen Rahmenbedingungen haben, um Feiertage frei zu gestalten – Schichtdienste, finanzielle Belastungen oder beengte Wohnsituationen können Grenzen setzen und verlangen noch sorgfältigeres Abwägen von Bedürfnissen. Umso wichtiger ist ein Raum, in dem niemand sich verstellen muss und in dem alle Beteiligten mit ihren Bedürfnissen gesehen werden.
Offen darüber zu sprechen, was jeder und jede für sich braucht – Ruhe oder Programm, Tradition oder Neues, frühes Abendessen oder spätes Beisammensein – ist oft der Schlüssel zu einem gelungenen Fest. Ein einfaches „Was würde dir dieses Jahr gut tun?“ öffnet Türen und nimmt Erwartungen den Druck.
Wer nicht mehr an alten Ritualen festhalten kann oder möchte, darf neue schaffen: kleine, überschaubare Gesten, die echtes Miteinander formen. Das kann ein Spaziergang sein, bei dem alle eine kleine Erinnerung aus dem Jahr erzählen. Ein gemeinsames Kochen oder ein sogenanntes Potluck, bei dem jede Person ein Gericht mitbringt, das für sie etwas bedeutet. Oder ein gemütliches Filmritual mit sorgfältig ausgewählter Playlist und Snacks, die sonst nie jemand kauft. Auch ein Jahresrückblick im Flüsterton – drei Dinge, die schön waren und drei, die man loslassen möchte – schafft Intimität, ohne schwer zu wirken.
Praktisch kann es helfen, Aufgaben bewusst zu verteilen, um niemanden zu überlasten: Wer dekoriert gern? Wer kocht? Wer plant eine kleine Aktivität? Und wer möchte lieber einfach ankommen dürfen? Wahlfamilien funktionieren oft besonders gut, wenn jede Stimme gleich zählt und alles verhandelbar ist. Dazu gehört auch Selbstfürsoge: Wenn jemand eine Pause braucht, Rückzug oder Stille, sollte das genauso selbstverständlich sein wie gemeinsames Lachen.
Für gemeinsame Aktivitäten eignen sich solche, die Verbindung schaffen, ohne peinlich zu werden. Eine kleine „Mitternachtsbuchrunde“, bei der alle ein Buch vorstellen, das ihnen im Jahr etwas bedeutet hat. Ein „Bilderspiel“, bei dem jede und jeder Beteiligte ein Foto mitbringt, das eine Geschichte mit sich trägt. Ein Kooperationspuzzle, das über den Abend hinweg wächst. Oder ein „Mini-Memory“ aus Momenten des Jahres – Zettel mit Szenen, über die man später miteinander schmunzelt. Wichtig ist, dass alle ihren Spaß haben. Und wer weiß, vielleicht entstehen sogar ganz neue Feiertagsrituale wie ein gemeinsamer Waffel-Abend im Schlafanzug, bei dem alle Karaoke singen.Feiern mit der Wahlfamilie bedeutet oft, Traditionen zu ersetzen oder neue zu erfinden. Es bedeutet, einen Tisch zu decken, an dem Menschen sitzen, weil sie sich füreinander entschieden haben. Und vielleicht ist genau das die schönste Art, Weihnachten zu feiern: mit einem Kreis, der nicht durch Zufall oder ausschließlich durch genetische Abstammung entstanden ist, sondern durch gegenseitige Wärme, Respekt und das stille Wissen, dass Liebe viele Formen haben darf.