Gehrden gedenkt der Opfer des nationalsozialistischen Terrors
Die Nacht 9. auf den 10. November 1938 war das offizielle Signal
zum größten Völkermord in der Geschichte – auch in Gehrden wütete der Mob

Gedenkstätte: Bis 1920 ist das heutige Wohn- und Geschäftshaus am Steinweg als Synagoge genutzt worden.Foto: Dirk Wirausky
Gehrden. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen. Sie brannten im gesamten Deutschen Reich. Der 9. November ist der Tag, an dem organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte, Gotteshäuser und andere Einrichtungen in Brand setzten. Es ist der Tag, an dem Tausende Jüdinnen und Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte. Die Ereignisse markieren einen Wendepunkt, an dem die Verfolgung zu offener, mörderischer Gewalt wurde.

Das Attentat am 7. November 1938 auf den Legationsrat der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, durch den 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan wurde zum Anlass für einen gegen die Juden gerichteten und angeordneten Pogrom genommen. Eine Mord-, Brandstiftungs- und Plünderungs-, in letzter Konsequenz auch Raub- und Vertreibungsaktion bisher nicht gekannten Ausmaßes. Auch in Gehrden wütete vor 87 Jahren der Mob.

In Gehrden steht keine jüdische Einrichtung mehr. Bis 1920 hatte es am Steinweg noch eine Synagoge gegeben. Sie wurde aufgegeben und diente anschließend als Möbellager. Das zugehörige Vorderhaus wurde zunächst zu einem Textilgeschäft, das jüdische Kaufleute führten. Das einstige Synagogengebäude und das dazugehörige Wohn- und Geschäftshaus wurden 1979 für den Neubau eines Hauses abgerissen. An einer Hausseite ließ die Stadt Gehrden 1980 eine Gedenktafel anbringen. Später wurde die Stelle gestalterisch zu einer kleinen Gedenkstätte aufgewertet. Am 9. November, dem Jahrestag der Novemberpogrome von 1938, finden an der Gedenkstätte Kranzniederlegungen mit einer Schweigeminute unter Teilnahme von Bürgerinnen und Bürgern statt – auch in diesem Jahr.

Die Gedenkveranstaltung der Stadt beginnt in diesem Jahr am Sonntag, 9. November, um 17 Uhr an der jüdischen Gedenktafel am Steinweg. Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse und Vorfälle sind die Gehrdenerinnen und Gehrdener aufgerufen, der Opfer des Holocausts zu gedenken – gerade auch jüngere Menschen. 2019 gab es einen Anschlag auf die jüdische Erinnerungskultur. Damals hatten Unbekannte die Gedenkstätte beschädigt, der Kranz wurde angezündet. Zum Zeitpunkt der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 lebten noch zwölf Menschen jüdischen Glaubens in Gehrden. Bei den Novemberpogromen von 1938 wurden in der Stadt Fenster und Einrichtung des damaligen jüdischen Geschäfts- und Wohnhauses sowie des einstigen Synagogengebäudes zerstört. Wahrscheinlich kam es wegen der dichten Bebauung und der Nähe zur Margarethenkirche sowie zum Rathaus nicht dazu, dass ein Brand gelegt wurde. Ob es bei der Attacke auf das Gebäude Verletzte gab, ist nicht bekannt.

1938 und 1939 gelang einigen jüdischen Bewohnern die Auswanderung, 1939 lebten noch acht Juden in Gehrden. Zwei Stolpersteine an der Dammstraße erinnern an das Schicksal von Amalie Dammann und ihrem Sohn Ludwig, die beide in Konzentrationslagern ermordet wurden. Die beiden Stolpersteine sollen symbolisch an die 15 weiteren ermordeten jüdischen Mitbürger erinnern, die in Gehrden geboren sind oder gewohnt haben. Die Steine werden regelmäßig von Schülerinnen und Schülern des Matthias-Claudius-Gymnasiums gesäubert.

Ebenfalls ein Teil der Erinnerungskultur ist eine Aktion der Margarethengemeinde. Konfirmanden säubern und pflegen mit Pastor Wichard von Heyden freiwillig die Grabstätten auf dem jüdischen Friedhof am Rande des Waldes – einmal im Jahr wird diese Aktion zur Herbstzeit ausgeführt. Initiiert hatte den Pflegeeinsatz vor mehr als 20 Jahren der damalige und inzwischen verstorbene Bürgermeister Heinrich Berkefeld.

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