„Die Oder-Neiße-Grenze“ lautete die Überschrift ihres Aufsatzes – wozu die 17-Jährige die Frage stellte: „Wie viele persönlichen Grenzen konnte beziehungsweise musste meine Urgroßmutter Anneliese Lau bei der Verschiebung der Oder-Neiße-Grenze 1945 überwinden?“ Hintergrund ist die Verschiebung der polnischen Westgrenze bis zur Oder-Neiße-Linie nach dem Zweiten Weltkrieg, bei denen die Deutschen aus den nun neuen polnischen Westgebieten vertrieben wurden. Unter ihnen war auch Anneliese Lau, die mit ihren drei Kindern, darunter Oelrichs Großvater, aus ihrer Heimat Pommern fliehen musste.
Ihre Geschichte erzählt die Schülerin in dem Aufsatz, den sie passend zum diesjährigen Thema „Bis hierhin und nicht weiter!? Grenzen in der Geschichte“ einreichte. Mehr als 6720 Kinder und Jugendliche bundesweit waren dem Aufruf der Körber-Stiftung gefolgt, die den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten jedes Jahr veranstaltet, und hatten ihre Werke eingeschickt.
Das Wissen dazu sammelte Oelrich aus dem Ahnenbuch ihres Opas, das er ihr schenkte. Darin seien auch Tagesbucheinträge ihrer Urgroßmutter aus der damaligen Zeit, erzählt die 17-Jährige. „Mit meinem Aufsatz möchte ich meinen Opa und sein Ahnenbuch würdigen.“
Doch nicht nur darum ging es ihr. „Mir ist das Thema wichtig, weil diese Vertreibungen verharmlost werden“, betont die Schülerin. „Denn die sollten geregelt und human ablaufen, jedoch wurden die Zivilisten, egal ob Kinder, Frauen oder ältere Menschen, ausgeplündert, erschlagen, vergewaltigt oder erschossen. Die Häuser, die noch standen, wurden in Brand gesteckt.“ Die Gewalt der Roten Armee hätte viele Menschen getroffen, die es nicht verdienten. „Mein Opa war extrem gegen Nazis und hat sich für Juden eingesetzt“, sagt die 17-Jährige.
Dennoch musste die Familie auf der Flucht viel durchmachen. „Einmal wollten sie in einen Zug einsteigen, schafften es aber nicht mehr. Wenig später kam der Zug zerbombt zurück“, berichtet Oelrich. Es seien die ersten Toten gewesen, die ihr Opa miterlebt habe. Auf der Flucht sei ihr Großvater schwer erkrankt und fast gestorben. „Dann wäre ich heute gar nicht hier“, sagt die Schülerin. Nach vielen Strapazen zog es die Familie zunächst nach Rostock, danach zu Oelrichs Großtante in ein Dorf in der Nähe von Göttingen.
Später schreibt Oelrichs von der Zeit, als Anneliese Lau mit ihren Kindern in der DDR lebte. „Die DDR war die letzte Grenze meiner Urgroßmutter.“ Ihr Großvater, der inzwischen seine Frau kennengelernt hatte, habe dort keine Zukunft für sich gesehen und die DDR gen Westen verlassen. Ihre Urgroßmutter kam nicht mit, der Weg sei ihr zu viel gewesen.
In ihrem Aufsatz gehe es nicht nur um geografische Grenzen – sondern auch um persönliche, körperliche und seelische Grenzerfahrungen. „Sie wusste nicht, dass sie ihren Sohn nie wieder sehen würde, denn sie ist in der DDR gestorben“, schreibt Oelrich.Fortsetzung auf Seite 5Die Schülerin hat sich wahrlich tief mit dem Thema auseinandergesetzt. Auf den Wettbewerb stieß sie durch eigene Recherche und sprach ihre Geschichtslehrerin Elena Wirausky darauf an, die sie anmeldete und fortan unterstütze – das Thema des Wettbewerbs wusste Oelrich zu dem Zeitpunkt noch nicht. „Das Interesse war von Anfang an da, und Schreiben macht mir Spaß“, sagt die Schülerin. Als das Thema feststand, überlegte sie sich ihre Fragestellung und ging auf Quellensuche. Sie forschte in Bibliotheken, interviewte ihre Großtante und las im Ahnenbuch ihres Großvaters. „Dann habe ich alles zusammengetragen und eingereicht.“
Der Wettbewerb begann im September, sechs Monate arbeitete sie an ihrem Aufsatz. Wohlgemerkt in ihrer Freizeit – ein ungewöhnliches Hobby für eine 17-Jährige. „Mir hat es Spaß gemacht“, beschreibt Oelrich es schlicht, auch wenn es ursprünglich keine 52 Seiten werden sollten. „Das war dann eher der Prozess.“ Über den Förderpreis in Höhe von 200 Euro habe sie sich gefreut, die Benachrichtigung darüber sei im Unterricht gekommen. „Das war auf jeden Fall überraschend.“
Lehrerin Wirausky hat für ihre Schülerin nur Lob übrig: „Sie ist sehr selbstständig und diszipliniert.“ Denn helfen musste sie ihr kaum. Und auch Schulleiterin Silvia Bethe ist stolz auf Oelrich: „Das spricht dafür, dass die Schüler bei uns gut gefördert werden.“
Für Oelrich ist die Arbeit aber noch nicht zu Ende, sie möchte weiter zu dem Thema recherchieren – und auch in Pommern auf Spurensuche gehen. „Ich vermute dort in einem Museum weitere Unterlagen meines Großvaters und meiner Urgroßmutter.“ Der Aufsatz dürfte also noch ein paar Seiten länger werden.